Samstag, 3. Dezember 2016

Stürme ernten



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Technik
03.12.2016, 05:30
Offshore Windenergie

Stürme ernten

Immer grössere Windturbinen werden immer ferner der Küste installiert, in immer tieferem Wasser.Das stellt Installation und Wartung vor neue Herausforderungen.

Anja Jardine

Vermutlich traut man seinen Augen nicht, wenn sich ein 200 Meter langes Schiff horizontal aus dem Meer erhebt, sich auf vier Beinen in die Höhe stemmt, bis der Rumpf 25 Meter über der Wasseroberfläche hängt. Richtet dann noch der Kran an Deck seinen 100 Meter langen Ausleger auf, bekommen die Legenden von Seeungeheuern neue Nahrung. Das vom Rostocker Konstruktionsbüro Neptun Ship Design entworfene Schiff zur Installation von Windkraftanlagen auf dem Meer hat in der Tat etwas Ungeheuerliches, aber es trägt den Namen eines Edelsteins: «Blue Amber».

«Blue Amber» soll die Windturbinen der Zukunft im Meer installieren, wobei die Zukunft etwa auf 2020 terminiert sei, sagt Harald Arndt, Projektmanager für Offshore bei Neptun Ship Design. Bis dahin, so die Annahme der Konstrukteure, würden die Hersteller die 10- oder sogar die 11-Megawatt-Windturbine entwickelt haben. Und dann werde die gegenwärtige Flotte der Errichterschiffe nicht mehr in der Lage sein, ihre Aufgabe zu bewältigen. «Die Branche ist jung», sagt Arndt, «bis anhin kommen in der Installation meist alte Schiffe zum Einsatz, die umgerüstet und mit einem neuen Kran versehen wurden.» Die neuen Windkraftanlagen jedoch würden Höhen und Gewichte erreichen, die von Schiff und Kran andere physikalische Eigenschaften erforderten.

Wettrennen um Megawatt

Offshore-Windturbinen, die heute in Betrieb sind, erbringen eine Leistung von 3 bis 6 Megawatt, und ihre Entfernung zur Küste beträgt in Deutschland im Durchschnitt etwa 70 Kilometer, in Norwegen 56 Kilometer und den Niederlanden 40 Kilometer. In diesem Sommer nun hat der dänische Energiekonzern Dong die Genehmigung der britischen Regierung erhalten, 120 Kilometer vor der Küste Yorkshires einen Windpark mit Turbinen der 7-Megawatt-Klasse von Siemens zu errichten.

Die Windräder sind 190 Meter hoch und haben einen Rotordurchmesser von 154 Metern. 171 dieser Kolosse werden sich zu «Hornsea Project One» formieren und ab 2020, so der Plan, eine Million Haushalte mit Strom versorgen. Es wird der bisher grösste Windpark der Welt.

Turbinenhersteller wie Siemens, Vestas oder Adwen liefern sich ein Rennen um die leistungsstärksten Turbinen. Im September 2016 verkündete Dong, in dem Windpark «Burbo Bank Extension» vor Liverpool erstmals eine 8-Megawatt-Turbine von Vestas installiert zu haben. Auch auf «Borkum Riffgrund 2» vor Niedersachsens Küste will Dong ab 2018 mit Windturbinen der 8-Megawatt-Klasse Strom erzeugen. Die Rotoren dieser Windräder werden eine Flügelspanne von 164 Metern haben. Doch es geht weiter: Auf Konferenzen und in Fachpublikationen sei bereits von 10- und gar 11-Megawatt-Turbinen die Rede, sagt Arndt.

Je grösser der Rotor, desto grösser die Energieausbeute – eine Gesetzmässigkeit, die der Windkraftpionier Albert Betz bereits 1926 entdeckte: Verdoppelt sich die überstrichene Fläche des Kreises, die der Rotor mit seinen Blättern in den Himmel zeichnet, verdoppelt sich die abnehmbare Energie. Für die Wirtschaftlichkeit der Anlagen aber noch entscheidender sind Kraft und Tempo des Windes: Verdoppelt sich die Windgeschwindigkeit, steigt die Leistungsausbeute um das Achtfache. Aus diesem Grund streben die Windparkbetreiber immer weiter hinaus aufs Meer.

Was also kann «Blue Amber», was andere nicht können? «Sie kann Turbinen der 10- oder 11-Megawatt-Klasse fern der Küste in einer Wassertiefe von bis zu 60 Metern installieren», sagt Arndt. Und zwar sechs auf einer Fahrt: An Bord findet sich Platz für 6 Türme von je 120 Meter Länge, 18 Rotorblätter à 80 Meter Länge sowie 6 Gondeln, jede davon so gross wie ein Einfamilienhaus.

Die Gondel beherbergt den Generator und andere Subsysteme. Eine Hauptwelle leitet die vom Rotor in eine Drehbewegung umgesetzte Windkraft über ein Getriebe auf die Turbine, die an möglichst 365 Tagen im Jahr 20 Jahre lang Strom liefern soll. Der wird über eine Umspannplattform auf Gleichstrom umgespannt, über Exportkabel auf dem Meeresgrund an Land geschickt, dort wieder in Wechselstrom transformiert und ins Netz eingespeist.

Vier Beine ins Meer gestellt

Die Fundamente werden vorab in einem separaten Arbeitsgang gelegt, der bis zu zwei Jahren dauern kann. Das Seegebiet muss untersucht, alte Munition eingesammelt, das Raster für die Anlagen gelegt und das Gebiet kartografiert werden. Je nach Beschaffenheit der Sedimente werden sogenannte Monopiles – Stahlröhren, die bis zu 40 Meter tief in den Meeresboden gerammt werden – verwendet oder «Suction Bucket Jackets»: Gittermasttürme, die sich mittels Hohlräumen an den Füssen am Meeresboden festsaugen. Dort unten, in 60 Metern Tiefe, hat das Jacketfundament eine Aussenkante von 35 mal 35 Metern und ist umgeben von einer Sicherheitszone, in die kein Bein gestellt werden darf.

«Anhand dieser Geometrie haben wir ‹Blue Amber› entwickelt», sagt Arndt. Die Frage lautete: Wie muss ich mich mit dem Schiff hinstellen, damit der Kran grosse Lasten weit auslegend in bestimmten Höhen aufbauen kann? «Wir haben vier Beine ins Meer gestellt, mit einem Kran obendrauf, der hoch genug ist, um Windturbinen bis zu 130 Meter Höhe zu errichten, und drumherum ein Schiff gebaut.»

Das Ergebnis sieht ein bisschen so aus, als wäre es im Labor von James Bonds Waffenmeister Meister Q entstanden. Nähert sich «Blue Amber» voll beladen einem Fundament, ragen nicht nur die 6 Türme, sondern auch ihre 4 Beine in die Luft wie bei einem umgedrehten Tisch. Auf den letzten Metern übergibt der Kapitän das Kommando an den Dynamic Positioning Operator und den Leg Operator, denen es obliegt, aus ihrem Fahrzeug eine Burg im Meer zu machen – der eine ist zuständig dafür, trotz Wind und Strömung nicht gegen das Fundament zu klatschen, der andere dafür, die Beine an der richtigen Stelle behutsam aufzusetzen. Die Prozedur kann nur in bestimmten Wetterfenstern durchgeführt werden und bis zu zwei Stunden dauern, «jack up», «jack down», bis die Füsse, sogenannte Spudcans, durch das Gewicht des Schiffs bis zu zehn Meter tief im Schlamm versackt sind.

Erst dann wird der Schiffsrumpf auf 25 Meter über dem Wasserspiegel hochgefahren, und der Aufbau der Turbine kann beginnen. Etwa 120 Menschen befinden sich an Bord: die Schiffscrew, Fachleute, Mitarbeiter von Behörden, Klassifikationsgesellschaft, Versicherung; sie alle können mehrere Wochen auf dem Schiff wohnen.

Der Aufbau der Turbine soll mit genau fünf Kran-Aktionen erledigt werden, sagt Arndt: ein Lift für den Turm, einer für die Gondel sowie drei für die Blätter. Fertig. Über eine mobile Brücke können die Ingenieure hinüber zur Windkraftanlage und die Feinarbeiten ausführen. Sofern es das Wetter zulasse, sei für den Aufbau einer Turbine ein Tag vorgesehen. Sobald alle sechs Windräder stehen, mache «Blue Amber» sich auf den Rückweg, um Nachschub zu holen. Ohne Ladung erreicht das Schiff ein Tempo von 14 Knoten, das sind etwa 26 Kilometer pro Stunde. Effizientes Energie-Management und Umweltschutz hätten bei der Entwicklung hohe Priorität gehabt, sagt Arnd, «Blue Amber» führe unter anderem die Klassenotation «Clean Design». Umweltauflagen und auch Kostendruck verlangten nachhaltige Lösungen.

Kleine Schwester «Blue Achat»

Wenn ein Windpark steht und «Blue Amber» ihre Arbeit erledigt hat, könnte ihre kleine Schwester «Blue Achat» den Dienst aufnehmen. So jedenfalls würde Neptun Ship Design es sich wünschen. «Blue Achat» ist ein Serviceschiff, das wie «Blue Amber» bis anhin nur auf dem Papier existiert. Es könnte draussen auf dem Meer bei den Windrädern Position beziehen und wäre gleich vor Ort, wenn der Blitz einschlägt oder ein Blatt kaputtgeht.

Wartungsarbeiten und Reparaturen seien heute für die Windparkbetreiber eine extrem zeit- und kostenaufwendige Angelegenheit, sagt Arndt. Der Techniker müsse mit seinem Werkzeugbeutel erst zur Anlage geflogen, grössere Ersatzteile müssten vom nächsten Hafen per Schiff herbeigebracht werden. «Wenn eine 10-Megawatt-Anlage, die immerhin eine Kleinstadt einen Tag mit Energie versorgen kann, eine Woche ausfällt, bedeutet das riesige Verluste», sagt Arndt. Und die Crux sei ja die, dass gerade dann keine Reparaturmannschaft eingeflogen werden könne, wenn es stürmt: kostbarer Wind, der eigentlich geerntet werden sollte.

«Blue Achat» wäre immer schon da, ein Set gewuchteter Ersatzblätter an Bord, ebenso andere Ersatzteile, die in klimatisierten Lagerräumen vor der salzhaltigen Luft geschützt werden. Für 30 Menschen könnte es fast so etwas wie ein Zuhause sein, im Schichtwechsel alle zwei Wochen. Nicht nur Unterkunft und Verpflegung sollten gut sein, sagt Arndt, es gäbe auch einen Pool, Sauna, Bibliothek und Fitnessräume für die Mannschaft, schliesslich wolle man hochqualifizierte Leute für eine solche Lebensform gewinnen.

Den Strom, den «Blue Achat« braucht, zapft sie direkt von den Windmühlen ab; die eigenen Generatoren könne sie abschalten. Sie verfügte nicht nur über einen Helikopter-Landeplatz, sondern auch über eine Tankstation. Alles parat. Es fehlen nur noch die 10- oder 11-Megawatt-Turbinen.